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Ich konnte das Geräusch einordnen, aber mich nicht zu ihm verhalten, ich hatte es öfter gehört, aber noch nie darauf reagieren müssen. Bei uns zu Hause reagierten die Mädchen auf das Geräusch der Haustürklingel, die Ladenklingel bei Derkums hatte ich oft gehört, war aber nie aufgestanden. In Köln hatten wir in einer Pension gewohnt, in Hotels gibt es nur Telefonklingeln. Ich hörte das Klingeln, nahm es aber nicht an. Es war fremd, nur zweimal hatte ich es in dieser Wohnung gehört, als ein Junge Milch brachte und Züpfner Marie die Teerosen schickte. Als die Rosen kamen, lag ich im Bett, Marie kam zu mir rein, zeigte sie mir, hielt entzückt die Nase in den Strauß, und es kam zu einer peinlichen Szene, weil ich dachte, die Blumen wären für mich. Manchmal hatten mir Verehrerinnen Blumen ins Hotel geschickt. Ich sagte zu Marie: »Hübsch, die Rosen, behalt sie«, und sie sah mich an und sagte:

»Aber sie sind ja für mich.« Ich wurde rot. Es war mir peinlich, und mir fiel ein, daß ich Marie noch nie Blumen hatte schicken lassen. Natürlich brachte ich ihr alle Blumen mit, die ich auf die Bühne gereicht bekam, aber gekauft hatte ich ihr nie welche, meistens mußte ich den Blumenstrauß, den ich auf die Bühne gereicht bekam, selbst bezahlen. »Von wem sind denn die Blumen?« sagte ich. »Von Züpfner«, sagte sie.

»Verdammt«, sagte ich, »was soll das ?«Ich dachte an das Händchenhalten. Marie wurde rot und sagte: »Warum sollte er mir keine Blumen schicken?« — »Die Frage muß anders lauten«, sagte ich: »Warum sollte er dir Blumen schicken?« -»Wir kennen uns schon lange«, sagte sie, »und vielleicht verehrt er mich.« - »Gut«, sagte ich, »soll er dich verehren, aber soviel kostbare Blumen, das ist aufdringlich. Ich finde es ge- schmacklos.« Sie war beleidigt und ging hinaus.

Als der Milchjunge klingelte, saßen wir im Wohnzimmer, und Marie ging raus, öffnete ihm und gab ihm Geld. Besuch hatten wir in unserer Wohnung nur einmal

vor er konvertierte, aber der hatte nicht geklingelt, er war mit Marie heraufgekommen.


Das Klingeln klang auf eine merkwürdige Weise zugleich schüchtern und doch hartnäckig. Ich hatte eine fürchterliche Angst, es könnte Monika sein, vielleicht gar von Sommerwild unter irgendeinem Vorwand geschickt. Ich bekam sofort wieder den Nibelungenkomplex. Ich rannte mit meinen klatschnassen Pantoffeln in die Diele, fand den Knopf nicht, auf den ich drücken mußte. Während ich ihn suchte, fiel mir ein, daß Monika ja den Hausschlüssel hatte. Ich fand endlich den Knopf, drückte und hörte unten ein Geräusch, als ob eine Biene gegen eine Fensterscheibe brummte. Ich ging in den Flur raus, stellte mich neben den Aufzug. Das Besetzt- zeichen wurde rot, die Eins leuchtete auf, die Zwei, ich starrte nervös auf die Ziffern, bis ich plötzlich bemerkte, daß jemand neben mir stand. Ich erschrak, drehte mich um: eine hübsche Frau, hellblond, nicht übertrieben schlank, mit sehr lieben, hellgrauen Augen. Ihr Hut war für meinen Geschmack etwas zu rot. Ich lächelte, sie lächelte auch und sagte: »Sie sind sicher Herr Schnier - mein Name ist Grebsel, ich bin Ihre Nachbarin. Ich freue mich, Sie einmal leibhaftig zu sehen.« - »Ich freue mich auch«, sagte ich - ich freute mich wirklich. Frau Grebsel war trotz des zu roten Hutes eine Augenweide. Ich sah unter ihrem Arm eine Zeitung »Die Stimme Bonns«, sie sah meinen Blick, wurde rot und sagte: »Machen Sie sich nichts draus.« - »Ich werde den Hund ohrfeigen«, sagte ich, »wenn Sie wüßten, was das für ein mieser, heuchlerischer Vogel ist - und betrogen hat er mich auch, um eine ganze Flasche Schnaps.« Sie lachte. »Mein Mann und ich, wir würden uns freuen«, sagte sie, »wenn wir unsere Nachbarschaft einmal realisieren könnten. Bleiben Sie länger?« -»Ja«, sagte ich, »ich werde einmal klingeln, wenn Sie gestatten - ist bei Ihnen auch alles rostfarben ?« - »Natürlich«, sagte sie, »rostfarben ist doch das Kennzeichen des fünften Stocks.«

Der Aufzug hatte auf der dritten Etage länger gehalten, jetzt wurde die Vier rot,

vor Erstaunen einen Schritt zurück. Mein Vater kam aus dem Aufzug, hielt die Tür der einsteigenden Frau Grebsel auf und wandte sich mir zu. »Mein Gott«, sagte ich,

»Vater.« Ich hatte noch nie Vater zu ihm gesagt, immer nur Papa. Er sagte »Hans«, machte einen ungeschickten Versuch, mich zu umarmen. Ich ging vor ihm her in die Wohnung, nahm ihm Hut und Mantel ab, öffnete die Wohnzimmertür und zeigte auf die Couch. Er setzte sich umständlich.

Wir waren beide sehr verlegen. Verlegenheit scheint zwischen Eltern und Kindern die einzige Möglichkeit der Verständigung zu sein. Wahrscheinlich hatte meine Begrüßung »Vater« sehr pathetisch geklungen, und das steigerte die Verlegenheit, die ohnehin unvermeidlich war. Mein Vater setzte sich in einen der rostfarbenen Sessel und sah mich kopfschüttelnd an: mit meinen klatschnassen Pantoffeln, nassen Socken, in dem viel zu langen Bademantel, der überflüssigerweise auch noch feuerrot war. Mein Vater ist nicht groß, 2art und auf eine so gekonnt nachlässige Weise gepflegt, daß sich die Fernsehleute um ihn reißen, wenn irgendwelche Wirtschaftsfragen diskutiert werden. Er strahlt auch Güte aus, Vernunft, und ist inzwischen als Fernsehstar berühmter als er als Braunkohlenschnier je hätte werden können. Er haßt jede Nuance der Brutalität. Man würde, wenn man ihn so sieht, erwarten, daß er Zigarren raucht, keine dicken, sondern leichte, schlanke Zigarren, aber daß er Zigaretten raucht, wirkt bei einem fast siebzigjährigen Kapitalisten überraschend flott und fortschrittlich. Ich verstehe schon, daß sie ihn in alle Diskussionen schicken, bei denen es um Geld geht. Man sieht ihm an, daß er nicht nur Güte ausstrahlt, sondern auch gütig ist. Ich hielt ihm die Zigaretten hin, gab ihm Feuer, und als ich mich dabei zu ihm hinbeugte, sagte er: »Ich weiß ja nicht viel über Clowns, aber doch einiges. Daß sie in Kaffee baden, ist mir neu.« Er kann sehr witzig sein. »Ich bade nicht in Kaffee, Vater«, sagte ich, »ich wollte nur Kaffee aufgießen, das ist mir mißglückt.«

Spätestens bei diesem Satz hätte ich wieder Papa sagen sollen, aber es war zu spät.

»Möchtest du was trinken?« Er lächelte, sah mich mißtrauisch an und fragte: »Was hast du denn im Haus ?«Ich ging in die Küche: im Eisschrank war der Kognak, es standen auch ein paar Flaschen Mineralwasser da, Zitronenlimonade und eine Flasche Rotwein. Ich nahm von jeder Sorte eine Flasche, trug sie ins Wohnzimmer und reihte sie vor meinem Vater auf dem Tisch auf. Er nahm die Brille aus der Tasche und stu- dierte die Etiketts. Kopfschüttelnd schob er als erstes den Kognak beiseite. Ich wußte, daß er gern Kognak trank, und sagte gekränkt: »Aber es scheint eine gute Marke zu sein.« - »Die Marke ist vorzüglich«, sagte er, »aber der beste Kognak ist keiner mehr, wenn er eisgekühlt ist.«

»Mein Gott«, sagte ich, »gehört Kognak denn nicht in den Eisschrank?« Er blickte mich über seine Brille hinweg an, als wäre ich soeben der Sodomie überführt worden. Er ist auf seine Weise auch ein Ästhet, er bringt es fertig, den Toast morgens dreimal, viermal in die Küche zurückzuschicken, bis Anna genau die richtige Bräunungsstufe herausbringt, ein stiller Kampf, der jeden Morgen neu beginnt, denn Anna hält Toast sowieso für »angelsächsischen Blödsinn«. - »Kognak im Eisschrank«, sagte mein Vater verächtlich, »wußtest du wirklich nicht - oder tust du nur so? Man weiß ja nie, wo man mit dir dran ist!«

»Ich wußte es nicht«, sagte ich. Er sah mich prüfend an, lächelte und schien überzeugt.

»Dabei habe ich soviel Geld für deine Erziehung ausgegeben«, sagte er. Das sollte ironisch klingen, so wie eben ein fast siebzigjähriger Vater mit seinem voll erwachsenen Sohn spricht, aber die Ironie gelang ihm nicht, sie fror an dem Wort Geld fest. Er verwarf kopfschüttelnd auch die Zitronenlimonade und den Rotwein und sagte: »Unter diesen Umständen erscheint mir Mineralwasser als das sicherste Getränk.« Ich holte zwei Gläser aus der Anrichte, öffnete eine Mineralwasserflasche.

Wenigstens das schien ich richtig zu machen. Er nickte wohlwollend, während er mir

»Stört es dich«, sagte ich, »wenn ich im Bademantel bleibe?«


»Ja«, sagte er, »es stört mich. Zieh dich bitte ordentlich an. Dein Aufzug und dein - dein Kaffeegeruch verleihen der Situation eine Komik, die ihr nicht entspricht. Ich habe ernsthaft mir dir zu reden. Und außerdem - entschuldige, daß ich so offen spreche -- hasse ich, wie du wohl noch weißt, jede Erscheinungsform der Schlamperei.«

»Es ist keine Schlamperei«, sagte ich, »nur eine Erscheinungsform der Entspannung.«

»Ich weiß nicht«, sagte er, »wie oft du in deinem Leben mir wirklich gehorsam gewesen bist, jetzt bist du mir nicht mehr zum Gehorsam verpflichtet. Ich bitte dich nur um einen Gefallen.«

Ich war erstaunt. Mein Vater war früher eher schüchtern gewesen, fast schweigsam. Er hat beim Fernsehen zu diskutieren und argumentieren gelernt, mit einem

»zwingenden Charme«. Ich war zu müde, mich diesem Charme zu entziehen.


Ich ging ins Badezimmer, zog mir die kaffeenassen Socken aus, trocknete die Füße ab, zog Hemd, Hose, Rock an, lief barfuß in die Küche, häufte mir die gewärmten weißen Bohnen auf einen Teller und schlug die weichgekochten Eier einfach über den Bohnen aus, kratzte die Eireste mit dem Löffel aus den Schalen, nahm eine Schnitte Brot, einen Löffel und ging ins Wohnzimmer. Mein Vater blickte auf meinen Teller mit einer Miene, die eine sehr gut gekonnte Mischung aus Erstaunen und Ekel darstellte.

»Entschuldige«, sagte ich, »ich habe seit heute morgen neun Uhr nichts mehr gegessen, und ich denke, es liegt dir nichts daran, wenn ich ohnmächtig zu deinen Füßen niederfalle.« Er brachte ein gequältes Lachen zustande, schüttelte den Kopf, seufzte und sagte: »Na gut - aber weißt du, nur Eiweiß ist einfach nicht gesund.«

»Ich werde anschließend einen Apfel essen«, sagte ich. Ich rührte die Bohnen und

und nahm einen Löffel von meinem Brei, der mir sehr gut schmeckte.


»Du solltest wenigstens etwas von diesem Tomatenzeug drauftun«, sagte er.


»Ich hab keins im Hause«, sagte ich.


Ich aß viel zu hastig, und die notwendigen Geräusche, die ich beim Essen machte, schienen meinem Vater zu mißfallen. Er unterdrückte seinen Ekel, aber nicht überzeugend, und ich stand schließlich auf, ging in die Küche, aß stehend am Eis- schrank meinen Teller leer und sah mir selbst während des Essens in dem Spiegel zu, der über dem Eisschrank hängt. Ich hatte nicht einmal das wichtigste Training in den letzten Wochen absolviert: das Gesichtstraining. Ein Clown, dessen Haupteffekt sein unbewegliches Gesicht ist, muß sein Gesicht sehr beweglich halten. Früher steckte ich mir immer, bevor ich mit dem Training begann, die Zunge heraus, um mir mich erst einmal ganz nahe zu bringen, bevor ich mich mir wieder entfremden konnte. Später ließ ich das und blickte mir, ohne irgendwelche Tricks anzuwenden, selbst ins Gesicht, täglich eine halbe Stunde lang, bis ich zuletzt gar nicht mehr da war: da ich zum Narzißmus nicht neige, war ich oft nahe daran, verrückt zu werden. Ich vergaß einfach, daß ich es war, dessen Gesicht ich da im Spiegel sah, drehte den Spiegel um, wenn ich mit dem Training fertig war, und wenn ich später im Laufe des Tages zufällig im Vorübergehen in einen Spiegel blickte, erschrak ich: das war ein fremder Kerl in meinem Badezimmer, auf der Toilette, ein Kerl, von dem ich nicht wußte, ob er ernst oder komisch war, ein langnasiges, blasses Gespenst - und rannte, so schnell ich konnte, zu Marie, um mich in ihrem Gesicht zu sehen. Seitdem sie weg ist, kann ich mein Gesichtstraining nicht mehr absolvieren: ich habe Angst, verrückt zu werden. Ich ging immer, wenn ich vom Training kam, ganz nah an Marie heran, bis ich mich in ihren Augen sah: winzig, ein bißchen verzerrt, doch erkennbar : das war ich, und war doch derselbe, vor dem ich im Spiegel Angst hatte. Wie sollte ich

Zohnerer erklären, daß ich

ohne Marie gar nicht mehr vor dem Spiegel trainieren konnte? Mich selbst beim Essen zu beobachten war nur traurig, nicht erschreckend. Ich konnte mich an dem Löffel festhalten, konnte die Bohnen erkennen, Spuren von Eiweiß und Eidotter darin, die Scheibe Brot, die immer kleiner wurde. Der Spiegel bestätigte mir so etwas rührend Reales wie einen leergegessenen Teller, eine Scheibe Brot, die kleiner wurde, einen leicht beschmierten Mund, den ich mit dem Rockärmel abwischte. Ich trainierte nicht. Es war niemand da, der mich aus dem Spiegel zurückgeholt hätte. Ich ging langsam ins Wohnzimmer zurück.

»Viel zu rasch«, sagte mein Vater, »du ißt zu hastig. Setz dich jetzt endlich. Trinkst du nichts?«

»Nein«, sagte ich, »ich wollte mir Kaffee machen, aber der ist ja mißlungen.«


»Soll ich dir welchen machen?« fragte er.


»Kannst du das denn?« fragte ich.


»Man rühmt mir nach, daß ich einen sehr guten Kaffee mache«, sagte er.


»Ach, laß nur«, sagte ich, »ich trinke etwas Sprudel, so wichtig ist das nicht.«


»Aber ich machs gern«, sagte er.


»Nein«, sagte ich, »danke. Es sieht in der Küche abscheulich aus. Eine riesige Kaffeepfütze, offene Konservenbüchsen, Eierschalen auf dem Boden.«

»Na gut«, sagte er, »wie du willst.« Er wirkte auf eine unangemessene Weise gekränkt. Er goß mir Sprudel ein, hielt mir sein Zigarettenetui hin, ich nahm eine, er gab mir Feuer, wir rauchten. Er tat mir leid. Ich hatte ihn mit meinem Teller voll Bohnen wahrscheinlich ganz aus dem Konzept gebracht. Er hatte sicher damit gerechnet, bei mir das vorzufinden, was er sich unter Boheme vorstellt: ein gekonntes Durcheinander und allerlei Modernes an Decke und Wänden, aber die Wohnung ist auf eine zufällige Art stillos eingerichtet, fast spießig, und ich merkte, daß ihn das

bedrückte. Die Anrichte hatten wir nach einem Katalog gekauft, die Bilder an den

Wänden waren lauter Drucke, nur zwei gegenstandlose darunter, einzig hübsch zwei Aquarelle von Monika Silvs, die über der Kommode hängen: Rheinlandschaft III und Rheinlandschaft IV, dunkelgraue Töne mit kaum sichtbaren weißen Spuren. Die paar hübschen Sachen, die wir haben, Stühle, ein paar Vasen und der Teewagen in der Ecke, hat Marie gekauft. Mein Vater ist ein Mensch, der Atmosphäre braucht, und die Atmosphäre in unserer Wohnung machte ihn nervös und stumm. »Hat Mutter dir erzählt, daß ich hier bin?« fragte ich schließlich, als wir die zweite Zigarette ansteckten, ohne ein Wort gesprochen zu haben.

»Ja«, sagte er, »warum kannst du ihr solche Sachen nicht ersparen.«


»Wenn sie sich nicht mit ihrer Komiteestimme gemeldet hätte, wäre alles anders gekommen«, sagte ich.

»Hast du was gegen dieses Komitee?« fragte er ruhig.


»Nein«, sagte ich, »es ist sehr gut, daß die rassischen Gegensätze versöhnt werden, aber ich habe eine andere Auffassung von Rasse als das Komitee. Neger zum Beispiel sind ja geradezu der letzte Schrei - ich wollte Mutter schon einen Neger, den ich gut kenne, als Krippenfigur anbieten, und wenn man bedenkt, daß es einige hundert Negerrassen gibt. Das Komitee wird nie arbeitslos. Oder Zigeuner«, sagte ich,

»Mutter sollte einmal welche zum Tee einladen. Direkt von der Straße. Es gibt noch Aufgaben genug.«

»Darüber wollte ich nicht mit dir reden«, sagte er.


Ich schwieg. Er sah mich an und sagte leise: »Ich wollte mit dir über Geld reden.« Ich schwieg weiter. »Ich nehme an, daß du in ziemlicher Verlegenheit bist. Sag doch was.«

»Verlegenheit ist hübsch gesagt. Ich werde wahrscheinlich ein Jahr lang nicht auftreten können. Sieh hier.« Ich zog das Hosenbein hoch und zeigte ihm mein

geschwollenes Knie, ich ließ die Hose wieder runter und zeigte mit dem Zeigefinger

»Ja«, sagte ich, »Herz«.


»Ich werde Drohmert anrufen und ihn bitten, dich zu empfangen. Er ist der beste Herzspezialist, den wir haben.«

»Mißverständnis«, sagte ich, »ich brauche Drohmert nicht zu konsultieren.«


»Du sagtest doch: Herz.«


»Vielleicht hätte ich Seele, Gemüt, Inneres sagen sollen — mir schien Herz angebracht.«

»Ach so«, sagte er trocken, »diese Geschichte.« Sicher hatte Sommerwild ihm beim Skat in der Herren-Union, zwischen Hasenpfeffer, Bier und einem Herz-Solo ohne drei, die »Geschichte« erzählt. Er stand auf, fing an, auf und ab zu gehen, blieb dann hinter dem Sessel stehen, stützte sich auf die Sessellehne und blickte auf mich herunter.

»Es klingt sicher dumm«, sagte er, »wenn ich dir ein großes Wort sage, aber weißt du, was dir fehlt? Dir fehlt das, was den Mann zum Manne macht: sich abfinden können«.

»Das habe ich heute schon einmal gehört«, sagte ich.


»Dann hörs zum dritten Mal: finde dich ab.«


»Laß«, sagte ich müde.


»Was glaubst du wohl, wie mir zumute war, als Leo zu mir kam und sagte, er würde katholisch. Es war so schmerzlich für mich wie Henriettes Tod - es hätte mich nicht so geschmerzt, wenn er gesagt hätte, er würde Kommunist. Darunter kann ich mir was vorstellen, wenn ein junger Mensch einen falschen Traum träumt, von sozialer Gerechtigkeit und so weiter. Aber das.« Er klammerte sich an die Sessellehne und schüttelte heftig den Kopf. »Das. Nein. Nein.« Es schien ihm ernst zu sein. Er war ganz blaß geworden und sah viel älter aus, als er ist.

»Setz dich, Vater«, sagte ich, »trink jetzt einen Kognak.« Er setzte sich, nickte zu

Sache glaubt«, sagte er, »deshalb hat es mich so schrecklich getroffen, aber auch damit habe ich mich abgefunden - abgefunden. Was siehst du mich so an?«

»Ich muß dir etwas abbitten«, sagte ich, »wenn ich dich im Fernsehen sah, habe ich gedacht, du wärst ein großartiger Schauspieler. Sogar ein bißchen Clown.«

Er sah mich mißtrauisch an, fast gekränkt, und ich sagte rasch: »Nein wirklich, Papa, großartig.« Ich war froh, daß ich das Papa wiedergefunden hatte.

»Sie haben mich einfach in diese Rolle gedrängt«, sagte er.


»Sie steht dir gut«, sagte ich, »und was du daran spielst, ist gut gespielt.«


»Ich spiele nichts daran«, sagte er ernst, »gar nichts, ich brauche nichts zu spielen.«


»Schlimm«, sagte ich, »für deine Gegner.«


»Ich habe keine Gegner«, sagte er empört.


»Noch schlimmer für deine Gegner«, sagte ich.


Er sah mich wieder mißtrauisch an, lachte dann und sagte: »Aber ich empfinde sie wirklich nicht als Gegner.«

»Noch viel schlimmer, als ich dachte«, sagte ich, »wissen die, mit denen du da dauernd über Geld redest, gar nicht, daß ihr das Wichtigste immer verschweigt - oder habt ihrs abgesprochen, bevor ihr auf den Schirm gezaubert werdet?«

Er goß sich Kognak ein, sah mich fragend an: »Ich habe mit dir über deine Zukunft sprechen wollen.«

»Augenblick«, sagte ich, »mich interessiert einfach, wie das gemacht wird. Ihr redet immer von Prozenten, zehn, zwanzig, fünf, fünfzig Prozent - aber ihr sagt nie, wieviel Prozent von was ?« Er sah fast dumm aus, als er das Kognakglas hob, trank und mich ansah. »Ich meine«, sagte ich, »ich habe nicht viel Rechnen gelernt, aber ich weiß, daß hundert Prozent von einem halben Pfennig ein halber Pfennig sind, während fünf Prozent von einer Milliarde fünfzig Millionen sind ... verstehst du?«

»Mein Gott«, sagte er, »hast du soviel Zeit, fernzusehen?«

»Ja«, sagte ich, »seit dieser Geschichte, wie du sie nennst, seh ich viel fern - es macht mich so schön leer. Ganz leer, und wenn man seinen Vater alle drei Jahre einmal sieht, freut man sich doch, wenn man ihn mal auf dem Fernsehschirm sieht. Irgendwo in einer Kneipe, bei Bier, im Halbdunkel. Manchmal bin ich richtig stolz auf dich, wie geschickt du es verhinderst, daß irgendeiner nach der Prozentzahl fragt.« »Du irrst«, sagte er kühl, »ich verhindere gar nichts.« »Ist es denn nicht langweilig, gar keine Gegner zu haben?« Er stand auf und sah mich böse an. Ich stand auch auf. Wir stellten uns beide hinter unsere Sessel, legten die Arme auf die Lehne. Ich lachte und sagte:

»Als Clown interessiere ich mich natürlich für die modernen Formen der Pantomime. Einmal, als ich allein im Hinterzimmer einer Kneipe saß, hab ich den Ton ausgeschaltet. Großartig. Das Eindringen des l'art pour l'art in die Lohnpolitik, in die Wirtschaft. Schade, daß du meine Nummer Aufsichtsratssitzung nie gesehen hast.«

»Ich will dir was sagen«, sagte er, »ich habe mit Genneholm über dich gesprochen. Ich habe ihn gebeten, sich einige deiner Auftritte einmal anzusehen und mir eine - eine Art Gutachten zu machen.«

Ich mußte plötzlich gähnen. Es war unhöflich, aber unvermeidlich, und ich war mir der Peinlichkeit durchaus bewußt. Ich hatte in der Nacht schlecht geschlafen und einen schlimmen Tag hinter mir. Wenn einer seinen Vater nach drei Jahren zum erstenmal wiedersieht, eigentlich zum erstenmal in seinem Leben ernsthaft mit ihm redet - ist Gähnen sicherlich das am wenigsten Angebrachte. Ich war sehr erregt, aber todmüde, und es tat mir leid, daß ich ausgerechnet jetzt gähnen mußte. Der Name Genneholm wirkte wie ein Schlafmittel auf mich. Menschen wie mein Vater müssen immer das Beste haben: den besten Herzspezialisten der Welt Drohmert, den besten Theaterkritiker der Bundesrepublik Genneholm, den besten Schneider, den besten Sekt, das beste Hotel, den besten Schriftsteller. Es ist langweilig. Mein Gäh-